Weiche und harte Konturen gezielt zur Bildkomposition einsetzen


Diese Neuinterpretation des Originals von Titian habe ich schon 2018 gemalt, allerdings in einer Version, die mich nie so recht begeistern konnte. Irgendwie fehlte dem Bild der Fokus. Passend zu Ostern habe ich mir die alte Version noch einmal angeschaut und analysiert, was in meinen Augen das Problem ist.

Alte Version von 2018

Ich habe damals das Bild in großen Teilen kopiert und nur das Smartphone hinzugefügt. Der Fokus beim Original liegt in der Interaktion von Jesus und Simon, also auf den Gesichtern in der Mitte des Bildes. Titian hat das durch Farbgebung, Kontrast etc. gesteuert. Dadurch, dass ich das Bild hauptsächlich abgemalt habe, liegt auch in meiner alten Version der Fokus noch in der Mitte des Bildes. Ich habe Titians Komposition, seine kleinen Tricks und Kniffe einfach kopiert. Das Problem ist, dass der Fokus bei mir ganz woanders liegen soll. Da ich das beim Abmalen nicht beachteht habe, ist die Hand mit dem Smartphone bei mir so ein zusätzliches Detail, es stört mehr, als das es hilft. Das hat mich wahrscheinlich unbewusst jetzt zwei Jahre gestört.

Ein Grund dafür, dass der Blick des Betrachters nicht schnell genug zum Smartphone wandert, ist wohl, dass die Details und Kontraste sehr gleichmäßig über das Bild verteilt sind.
Die Hand von Jesus, die sich auf dem Boden aufstützt, ist genauso detalliert gemalt, wie Simons Hand, die das Smartphone hält. Das obere Ende des Kreuzes hat einen hohen scharfen Kontrast zum Hintergrund, die Gewänder von Jesus und Simon unten rechts sind kontrastreich und detalliert. Das Auge des Betrachters weiß nicht, für welches Detail es sich entscheiden soll und wandert ziellos umher.

Das ist beim Originalbild kein Problem, da der Fokus dort in der Bildmitte liegt. Dort kommt das Auge beim Umherwandern ständig vorbei. Bei mir soll der Fokus aber oben rechts liegen und dorthin verirrt sich das Auge nur ungern freiwillig. Auf folgendem Bild sind ein paar konkurrierende Bildstellen abgebildet. Ohne Kontext kann man kaum entscheiden, was im Bild eine wichtigere Rolle spielt.

Harte Konturen auf beiden Seiten geben dem Auge keinen Anhaltspunkt, was wichtig ist.

Den Fokuspunkt gezielt verschieben

Für die neue Version habe ich die Bereiche, auf die das Auge des Betrachters sich nicht konzentrieren soll, uninteressanter gestaltet. Dazu habe ich nichts anderes getan, als Konturen und Details zu verwischen. Die Gewänder und das Kreuz verschmelzen mit dem Hintergrund. Die Hand, die Jesus auf den Boden aufstützt verschmilzt mit dem Boden. Dadurch wird die Hand mit dem Smartphone visuell wichtiger. Es gibt dort mehr zu entdecken, der Kontrast ist höher, das Auge wandert automatisch dorthin.

Eine Mischung aus weichen Konturen an unwichtigen Stellen und harten Konturen im Fokuspunkt helfen dem Auge, sich zu orientieren.

Wenn man beide Bilder nebeneinander betrachtet, sieht man den Unterschied dieser kleinen Änderungen sehr deutlich. Das Auge wandert in der neuen Version zunächst zu den Gesichtern. Von dort aus findet es oben rechts harte Konturen und hohe Kontraste und in allen anderen Bildbereichen nur weiche Konturen mit geringeren Kontrasten. Der Blick wird dadurch hoffentlich von den Gesichtern direkt zum Smartphone gelenkt.
Die alte Version rechts wirkt deutlich unruhiger, dort fehlt die Orientierung.

Ich habe leider kaum deutsche Quellen dazu gefunden, vielleicht fehlen mir die passenden Suchbegriffe. Im Englischen findet man zu diesem Phänomen viel unter dem Suchbegriff „Lost and Found Edges“. Ich kannte das Thema auch schon lange, aber da ich selten digital male, gibt es auch selten die Möglichkeit, ein Bild unkompliziert noch einmal zu ändern. Hier konnte ich die Theorie leicht in die Praxis umsetzen und ich werde versuchen, bei all meinen Bildern in Zukunft darauf zu achten, die Konturen zu variieren.

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